Interpretation der Sagen durch die Illustratorin Tania Zanetti
Sagen und ihre Zeitepochen
Sagen haben einen historischen und kulturellen Hintergrund, zu dem auch Weltbilder aus verschiedenen Epochen gehören, die sich jeweils in Erzählungen und Kunstgegenständen ihrer Zeit spiegeln. Nachweislich ist die obere Surselva seit der Spätbronzenzeit besiedelt, und in einigen Sagen sind Motive enthalten, die auch in uralten Mythen aus dem mittel- und nordeuropäischen Raum erscheinen. Solch alte Motive tauchen in den Sagen «Die Kühe von Vella, die am Weihnachtsabend sprechen», «Die drei Spinnerinnen bei Peinzas», «Der Müller und seine Puppe» auf.

Die Kühe in Vella, die am Weihnachtsabend sprechen (Wanderung #20): Auf dem Bild überlappen einander zwei Ebenen: Text- und Bildebene. Im gesamten mittel- und nordeuropäischen Raum wird behauptet, dass Tiere am Weihnachtsabend sprechen können. Bereits in der Jungsteinzeit galt die Wintersonnenwende als magisch und hatte kulturelle Bedeutung. Bei Dunkelheit öffnen sich die Sinne: Hinter der sichtbaren Realität spricht das Leben zu uns.
Die drei Spinnerinnen bei Peinzas (Wanderung #11): Auf dem Bild ist nicht etwa ein physischer, sondern ein magischer Raum abgebildet. Beim Motiv der drei Spinnerinnen handelt es sich um Schicksalsgöttinnen, die den Lebensfaden spinnen, verknüpfen und wieder abschneiden. Durch die Fäden verweben sich die drei Spinnerinnen zu einem Gesamtbild.
Der Müller und seine Puppe (Wanderung #19): Das Bild versetzt Bildbetrachter/in in die Lage, eine Puppe, die vom Geheimnisvollen umweht ist, in den Händen zu halten. Die Sage spielt in der Nähe einer Spätbronzenzeitlichen Siedlung. Als Nachbildung der menschlichen Gestalt dient die Puppe in Gesellschaften mit schamanischem Hintergrund kulturellen und magischen Zwecken. Probleme und Krankheiten werden da über den Symbolkörper (Puppe) behandelt. Für die Abbildung der Puppe wurde erst eine nach dem Beschrieb in dieser Sage genäht und anschliessend abgemalt.
Sagen aus dem Mittelalter
Die drei Sagen «Der Abt und die drei Rätsel», «Das schatzhütende Burgfräulein auf der Burg Jörgenberg» sowie «Das Ende des letzten Burgvogts von Pontaningen» sind etwas jünger und stehen mit Gebäuden und Themen aus dem Mittelalter in Verbindung. Mittelalterliche Literatur und Kunst waren geprägt vom Christentum, und sie drehten sich um Erkenntnisprozesse und die Befreiung der Seele.

Das schatzhütende Burgfräulein auf der Burg Jörgenberg (Wanderung #18): Die Handlung ist örtlich festgelegt, verweist auf die Burg Jörgenberg, die im Mittelalter eine bedeutende Rolle gespielt hatte. Mittelalterliche Kunst lehrt Weisheit und zielt mit ihrer Symbolsprache auf die Befreiung der Seele ab: Eine Prinzessin personifiziert die Seele, die Burg steht für das Haus der Seele und die Krieger stehen für die göttlichen und diabolischen Kräfte, welche um die Seele kämpfen. Der Stil des Bildes ist an mittelalterliche Malerei angepasst. Im Vordergrund begegnen einander Jüngling und Burgfräulein (Seele), zwei Figuren aus verschiedenen Zeiten und Ebenen.
Der Abt und die drei Rätsel (Wanderung #13): Im Mittelalter lag die Verwaltung des Reichs in den Händen von Grafen, die als Heerführer und königliche Amtsträger fungierten. Nebst personellen Herrschaftsstrukturen besass die Kirche eine Infrastruktur, die sich über das gesamte ehemalige weströmische Reich erstreckte. Wie in dieser Sage gerieten weltliche und geistliche Macht manchmal in Konflikt. In dieser Sage taucht unverhofft eine dritte Figur auf: In der Gestalt des Schweinehirts erscheint der Narr und führt den Machtkampf ad absurdum. Da für den Narren das Leben ein Spiel ist, wurde die Sage auf der Ebene des Narren – als Spiel – abgebildet.
Das Ende des letzten Burgvogts von Pontaningen (Wanderung #3): Das Geschlecht von Pontaningenlässt sich bis Mitte des 16. Jahrhunderts nachweisen. Damals fand der Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit statt. Dies war mit gesellschaftlichen Umbrüchen und Umwälzungen verbunden. Die frühe Neuzeit endete mit der Französischen Revolution (1789–1799), die der Demokratie zu ihrem Durchbruch verhalf. Das Bild führt den Bildbetrachter über drei Torbogen aus dem Spätmittelalter in die Gegenwart. Im Vordergrund ist die Burg aus dem 16. Jahrhundert zu sehen. Auch die Figuren erscheinen in der Bekleidung aus damaliger Zeit. Die Ruine im Hintergrund bildet die Burg im heutigen Zustand ab.
Kleider der Figuren und ihrer Zeitepochen
Weil viele Sagenfiguren an bestimmte Zeiten gebunden sind, musste auch die Kostümgeschichte berücksichtigt werden. Nicht nur die Bekleidung der Figuren, sondern ebenso die Art der Figurendarstellung wurde im Stil der entsprechenden Zeitepoche gemalt.
Die Hexe von Matergia auf Muschaneras (Wanderung #10): Die Protagonistin tritt in der Kleidung einer Oberländerin aus der Zeit des Dreissigjährigen Kriegs auf (1618–1648). Damals gab es noch keine ausgereiften Schnittmuster, so dass die einzelnen Kleidungsstücke zusammengeschnürt wurden, um an den Körper angepasst zu werden. Verheiratete Frauen bedeckten ihren Haupt. Die Tradition entwickelte sich aus den Umständen heraus: Nach der Geburt des ersten Kindes litten die meisten Frauen unter starkem Haarausfall. Dargestellt ist die Hexe von Matergia im Akt des Zauberns.

Das verhexte Kalb auf der Alp Tenigia (Wanderung #12): Im 19. Jahrhundert brachte die industrielle Revolution eine breite Schicht neureicher Bürger hervor, die den Tourismus in der Schweiz stark beeinflussten. Überall entstanden Hotels, das Landschaftsbild und die Infrastruktur veränderten sich. Die Noblesse wurde nach Vorbild von Modeillustrationen des auslaufenden 19. Jahrhunderts gemalt: Eng geschnürte Taille mit Tournüre – ein mit Rosshaar gepolstertes Gestell am Hintern –betonte die weibliche Linie. Der Herr erscheint im Smoking – eine Neuerfindung aus damaliger Zeit. Für die Werte der heimischen Bevölkerung steht das Kalb als Symbol. Dieses wurde, wie der Ziegenfuss, für das Bild aus seiner Umgebung herausgeschnitten und in eine fremde Welt platziert. Der Senn sieht sich seiner Werte beraubt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts – Blütezeit des Tenigerbads – wuchs der Widerstand gegen die «Fremdenindustrie» und der Schweizer Heimatschutz etablierte sich als wichtige Plattform.
Der Bergamasker Schafhirt, der das Unwetter fürchtete (Wanderung #8): Ein konkretes Datum (1868) wird mit einem konkreten Ereignis (Jahr der grossen Überschwemmungen) verbunden. Die Erzählung des Bergamasker Schafhirts wird als Märchen geschildert. Die Sage vermittelt ein neues rationalistisches und objektives Weltbild, das sich im Zuge der Industrialisierung durchgesetzt hat. Nebst neuen Produkten und Verkehrsmitteln entwickelten sich in diesem Zeitraum auch ein neues Kommunikationssystem und -medium: Die Post- und Ansichtskarte. Die Sage wurde als alte Postkarte aus dem 19. Jahrhundert dargestellt.
Tragödien – Sagen als Wege der Heilung und Wandlung
«Die Sage vom Felssturz von Brulf», «Der Senn im Lag Brit» und «Der Geisterochse von Lavaz» thematisieren Tragödien und unbewältigte Konflikte. Menschen suchten einen Weg, um mit schweren Situationen klarzukommen. Hierfür wurde das Problem aus dem Alltagsleben herausgelöst und im Rahmen der Sage abgebildet.

Die Sage vom Felsstruz von Brulf (Wanderung #17): Ende des 17. Jahrhunderts begrub der Felssturz von Brulf 22 Personen unter sich. Damals war der Anteil an Lese- und Schreibkundigen in ländlichen Gebieten gering. Nachrichten wurden nicht als schriftliche Berichterstattung mit Bildmaterial verbreitet, sondern in eine Erzählung verpackt und mündlich weitergegeben. Eine Erzählung lässt Bilder im Kopf entstehen. Zudem macht die Leitfigur (Protagonistin) das Geschehen über ihre Geschichte nachvollziehbar. Beim Bildraum dieser Sage handelt es um einen seelischen Raum, in dem die seelische Erschütterung der betroffenen Menschen zum Ausdruck kommt.
Der Senn im Lag Brit (Wanderung #14): 1815 brach in Indonesien der Vulkan Tamboraaus. Unmengen an Material gelangten in die Atmosphäre und sorgten für eine globale Wetterverschlechterung, so dass 1816 in Europa als «Das Jahr ohne Sommer» in die Geschichte einging. Missernten und eine erhöhte Sterblichkeit der Nutztiere lösten in Europa die schlimmste Hungersnot des 19. Jahrhunderts aus. Davon berichten die beiden Balken auf dem Bild. Die Sage thematisiert den Kampf ums Überleben unter Menschen, die in ihrer Not zu Bestien werden: Der verwunschene Senn kämpft als wütender Stier gegen sein Ebenbild, den Teufel. Die Situation ist nicht im natürlichen Raum, sondern zweidimensional dargestellt, was den geistigen Raum symbolisiert. Darin soll das Trauma Frieden finden.
Der Geisterochse von Lavaz (Wanderung #9): Die Sage berichtet von Menschen, die Opfer von Ungerechtigkeit und Betrug wurden. Im ersten Teil greift die Sage den Konflikt auf, im zweiten Teil geschieht das Unfassbare, das im dritten Teil seelisch verarbeitet wird. Zum Schluss wird der quälende Geist im See gebannt. Im kathathymen Bilderleben – Bilder, die von den Gefühlen her kommen – mündet der seelische Fluss jeweils in einem See oder Meer, wenn das Problem gelöst und der Prozess beendet ist. Im Bild ist der Geisterochse im See «Lai Ecarden» zu sehen. Dies bedeutet, dass der quälende Geist gebannt ist.
Kreaturen aus der Anderswelt – Teufel, Hexen, Feen, Alben
Gestalten aus der Anderswelt besuchen Menschen in ihrem Reich. Uns heutigen Menschen erscheinen diese Kreaturen irreal und unverständlich. Das liegt aber an unserem heutigen Weltbild, bei dem Objektivität, Rationalismus und der Glaube an die Stabilität der Materie das geistige Fundament bilden. Doch auch unser heutiges Weltbild stellt bloss eine subjektive Art und Weise dar, das Leben und die Welt zu interpretieren. Das Weltbild der Menschen, die Sagen mit Kreaturen aus der Anderswelt erschaffen hatten, trennt geistige und materielle Wirklichkeit nicht voneinander. In diesen Sagen ist alles beseelt: Naturkräfte und Tiergeister sind personifiziert und stehen mit den Menschen in Beziehung.
Teufel: Gestalttherapeutin Ingrid Riedel betrachtet die Figur des Teufels als ein Gefäss für die Bewältigung von Angst. Menschen aus früheren Zeiten verwandelten Symptome (z.B. Atemnot bei Angst) in ein Symbol. Hierfür malten sie sozusagen den Teufel an die Wand, womit Angst gebannt wurde. Nun war es möglich, der Angst ins Gesicht zu schauen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Durch Beschwörung und über Dialog konnte das Gesicht in ein freundliches verwandelt werden. Weiter verkörpert der Gehörnte die gewaltige Naturkraft aus dem Pflanzenreich, die im Frühling mit ihren Hörnern durchstösst. In der Folge schiessen überall Pflanzen aus dem Boden und Blätter an Bäumen und Sträuchern hervor.
Hexen: In jeder Kultur berichten Mythen und Märchen von mächtigen Frauen mit besonderen Fähigkeiten. Doch wie das Natürliche und die Natur wurden auch diese mehr und mehr verdrängt. In Gestalt einer Hexe wirkt das Verdrängte als lockende, verführerische und fesselnde Macht. Hexen personifizieren Naturgewalten, das Natürliche und pure Lebensenergie, die sich lebensfördernd, heilend und stärkend, aber auch destruktiv und zerstörerisch auswirken kann.
Alb und Elfe: Aus dem altdeutschen Wort Alb/Elb ging das Wort Elfe hervor. Erste Abbildungen derselben sind auf das Jahr 600 v.Chr. datiert und in den Grabmalereien der Etrusker zu finden. Diese bauten für ihre Verstorbenen Grabhügel mit einer Öffnung. Die Etrusker nannten die Geister der Toten Lasen, die in enger Beziehung zur Pflanzenwelt standen. Wie alle Naturkräfte, sind auch die Elfe und der Alb polar zu verstehen. Sie können dem Menschen schaden oder helfen. Mit der Zeit teilte sich deren polare Wesensart in zwei Wesen auf. Die skandinavischen Götter- und Heldensage Snorra-Edda (1220) unterscheidet zwischen Licht- und Schwarzalben. Im späten christlichen Mittelalter bildete sich die Vorstellung des Albs heraus, der sich Nachts auf die Brust des Schlafenden legt, der in der Folge unter Atemnot und Albträumen leidet.
Umsetzung in Bildsprache

Der Senn und der Teufel (Wanderung #3): Zu sehen ist die Alp Culmatsch als konkrete Landschaft. Darin erscheint der Teufel. Zwei Welten – die geisterhafte Welt und die konkrete Umgebung – überlappen sich im Bild. Der dunkle Himmel drückt die bedrückend-bedrohliche Stimmung aus. Weil der Teufel keine konkrete Form besitzt, ist er durchsichtig und in zerfliessenden Farben dargestellt, die einen Kontrast zu den stabilen Konturen der Landschaft bilden.
Die Hexenplatte bei Caschlé (Wanderung #4): In der konkreten Landschaft tanzen und feiern die Hexen. Auch sie sind durchsichtig gemalt. Es überlagern sich auch in diesem Bild zwei Welten – konkrete Wirklichkeit und Kreaturen aus der Anderswelt. Fernab der Zivilisation sind die Hexen friedlich. Jedoch baut sich im Hintergrund eine düstere Stimmung auf, die im dunklen Himmel zu erkennen ist und Unheil erwarten lässt.
Die Hexe, die sich in ein Ross verwandelt hatte (Wanderung #16): Das Bild zeigt den Moment, in dem das Verhalten der Pferde dem Fuhrmann etwas Verborgenes offenbaren: Eine weibliche magische Macht kommt zum Vorschein, und mit ihr kommt etwas Verdrängtes ans Licht. Da dies nicht im natürlichen, sondern im psychischen Raum geschieht, ist auf dem Bild kein konkretes Gebiet abgebildet.
Die Sage von der Fee der Runca (Wanderung #17): Als Wesen der Anderswelt taucht die Fee in der Berglandschaft auf, begegnet da einer Mutter mit Kind. Die Fee ist wohlwollend, weshalb sie in zarten pastellfarbenen Tönen gemalt ist. Ihre Konturen zerfliessen, weil sie keine greifbare Form besitzt. Der Himmel ist hell und offen, verbreitet eine friedliche Stimmung.
Vom Albdruck (Wanderung #5): Das Bild besteht aus zwei Räumen – einem Vordergrund und einem Hintergrund. Im Vordergrund ist das Wachleben des Jungen zu sehen: Die Pferde, die der Junge bei Tag gejagt hatte. Wird durch das Schlüsselloch geblickt, wird die Traumlandschaft des Jungen sichtbar. Da, in dieser parallelen Welt, erscheint der Alb.
Heilige und Magier
Das Kraut der heiligen Margareta (Wanderung #5): Gemalt ist das Geheimnis der heiligen Margareta im Motiv des Doppelbildnisses. Die heilige Margareta besitzt zwei Identitäten – Wahrheit und Trugschein – deren Grenzen sich verwischen. Hinter dem Trugschein (männliche Maske) kommt die weibliche Existenz zum Vorschein. Traum und Wirklichkeit verschmelzen auf dem Bild in klaren Formen und Linien.
Schüler der schwarzen Schule: Schüler der schwarzen Schule ist eine menschliche Sagenfigur mit besonderen Fähigkeiten und in der Sagenwelt des Bündner Oberlands weit verbreitet. Für die Umsetzung in Bild mussten erst zwei Fragen geklärt werden: «Wie sieht ein Schüler der schwarzen Schule aus und was ist eine schwarze Schule?» Der Begriff «Schwarze Schule» findet sich auch in deutschsprachigen Quellen und beschreibt einen Ort der Zauber-Ausbildung. Gemäss Quellen hatte es zum Beispiel die Schulen «Schwarze Schule in Leipzig und «Schwarze Mühle bei Schwarzkollm» gegeben. Das Ortswappen von Schwarzkollm in der Oberlausitz (Sachsen) zeigt eine schwarze Mühle, über welche ein Schüler der schwarzen Schule fliegt. In Oberlausitz spielt auch die bekannte Krabat-Sage. Für die Umsetzung der Sagenfigur in Bild diente das Ortswappen als Vorlage und bot Orientierung.
Der Schüler der schwarzen Schule in Segnas (Wanderung #6): Aufgabe von Zauberern war, zu beraten, zu heilen und den Kontakt zum Reich der Seele und des Geistes herzustellen. Deshalb erscheint im Bild ein Spiegel, der als Symbol für den leeren Geist steht – ein magischer Zustand. Doch dieser wird durch den Wort-Ausstoss des Hausherrn «Jesses Maria» gebrochen. Der Bruch erscheint im Bild im Motiv des zerbrochenen Spiegels, in dem sich das Gesicht des Schülers der schwarzen Schule auflöst.
Der fahrende Schüler und der Drache auf der Alp Russein (Wanderung #15): Der Drache, Symbol für Chaos, wird vom Schüler der schwarzen Schule gebändigt. Dadurch entsteht aus dem Chaos Ordnung bzw. eine Form. Auf dem Bild formen Drachen und Schüler der schwarzen Schule aus dem Stoff der Umgebung, aus Erde und Stein, ein Tal – die Val Russein.
Tiere in Sagen
Mensch und Tier waren schon immer eng miteinander verbunden. Treten Tiere im Rahmen der Gestalttherapie auf, halten sie dem Menschen Gefühle, die ihm peinlich sind, vor Augen. Womöglich erfüllen Tiere auch in Sagen diesen Zweck. Es fällt dem Mensch leichter, Triebhaftigkeit, Schwäche oder andere unerwünschten Eigenschaften in Form eines Tiers abzubilden. Als Projektionsfläche hilft das Tier dem Menschen, verdrängte Emotionen zu kanalisieren. Über die seelische Verbindung mit dem Tier schliesst sich der Mensch an die tieferen Kräfte an.
Der Gämsjäger und die Kröte (Wanderung #1): Das Bild zeigt, was der Jäger eben entdeckt hat: Die Gämse wird von der Kröte am Bein festgehalten. Es könnte sich bei dem sagenhaften Symbolbild um verdrängte Ängste handeln, dem Gefühl, machtlos ausgeliefert zu sein.
Die angebundene Gämse in der Greina (Wanderung #21): Im Bildhintergrund erstreckt sich die Hochebene der Greina. Der Bildvordergrund dokumentiert die Verwandlung der Frau. Wie ein Schmetterling, der aus seiner Puppe bricht, schlüpft auch die Frau aus ihrer alten Haut der Gämse. In verwandelter Form wandert sie als «Signura» zum rechten Bildrand hin, um aus dem Bild zu verschwinden und ein neues Leben zu beginnen.
Der undankbare Sohn in Drual (Wanderung #7): Das Bild soll die Frage aufwerfen: «Warum sitzt die Kröte dem Jungen im Gesicht?» Die Sage liefert die Antwort hierzu. Da tritt die Kröte als Erzieherin auf. Auf dem Bild macht die Kröte die Gier des Sohns sichtbar. Wegen ihrem Lebensraum stehen Kröten in der Symbolik in enger Beziehung zur Erdmutter und deuten auf die segenbringenden oder strafenden Erdgeister hin.
Thema Wetter
Die beiden Sagen «Die schwarze Wolke auf der Alp Curnera»und «Der Mann und die Frau, die es auf Scharinas schneien liessen», geben vermutlich Wissen zum Thema «Kreislauf des Wassers» in Form einer Erzählung weiter.
Die schwarze Wolke auf der Alp Curnera (Wanderung #1): Möglich, dass diese Sage über den Wasserkreislauf in Form einer Erzählung informiert und der Hirte die leitende Figur darstellt, die den Kreislauf des Wassers miterlebt. Das Bild eröffnet den Blick auf den Badus, zu welchem der Hirte mit der schwarzen Wolke hinfliegt. Da wird die Wolke ihre Reise beenden, sich in Wasser auflösen und einen See entstehen lassen.
Der Mann und die Frau, die es auf Scharinas schneien liessen (Wanderung #2): Die Verwandlung von Wasser in Schnee erscheint wie ein Wunder. Die Leitfigur der Sage hat dies beobachtet und berichtet von den Naturgewalten, einem Mann und einer Frau, die es auf Scharinas schneien liessen. Im Bild präsentieren sich die beiden Naturkräfte als Figuren ohne Gesicht und in den Farben dunkler Gewässer. Das Bild hält den Moment fest, in dem Schnee hingezaubert wird.
Geschichten von Menschen aus der Region
Geschichten von Menschen aus der Region sind als Ansichtskarten gemalt worden, die einen Gruss aus der Region vermitteln sollen.
Der starke Tavetscher (Wanderung #2): Die Sage berichtet über eine Bündner Sennen-Heldengeschichte auf der Alp Tiarms. Diese liegt an der Grenze der Kantone Graubünden und Uri, weshalb die Kantonswappen auf dem Bild nicht fehlen dürfen.
Der Junggeselle in Fuorns, der heiraten wollte (Wanderung #11): Eine Jugendstil-Ansichtskarte illustriert die Lage eines jungen Mannes, der sich zwischen drei Schwestern nicht entscheiden kann. Der Käse spielt bei der Wahl der Braut eine Schlüsselrolle, weshalb er prominent im Bild platziert ist.
Haben die Birnen auch Füsse? (Wanderung #2): Vor nicht allzu langer Zeit waren Birnen keine Selbstverständlichkeit. Die Römer brachten das Kultivieren der Frucht nach Westeuropa. Nach dem Zerfall des Reichs verschwand diese Tradition. Birnen wurden erst ab 600 n. Chr. von Klöstern und Adeligen wieder vermehrt angebaut. Im Hintergrund des Bildes ist der Hof von Chur zu sehen – eine aristokratische Welt. Ein Tor umrahmt den Birnenbaum. Mutter und Tochter aus Tschamut geraten über dieses Tor in eine andere Welt, in der es Birnen gibt. Unter den Birnen befindet sich eine Kröte, die auch in der Sage «Der undankbare Sohn in Drual» auftaucht und da ebenfalls auf Gier reagiert, die zu unmoralischem Essverhalten verleitet.
Witze
In den Sagen «Der Galgen» und «Der Herrgott, der die Nidel stahl» werden Witze über die Menschen einer Region gerissen. Die Region Disentis (grosser Bruder) nimmt die Region Val Medel (kleiner Bruder) auf den Arm – ein Phänomen, das weltweit vorkommt.
Der Galgen (Wanderung #7): Die Sage mit dem gruseligen Titel überrascht mit einem Witz. Das Absurde bekommt in diesem Bild Raum: Im Hintergrund ist die Val Medelmit Blick in Richtung Disentis zu sehen. Der wunderbare Galgen bringt Farbe ins Bild. Nicht nur im Rahmen der Sage, sondern auch im Bild hat der Galgen einen sonderbaren Platz im Vordergrund verdient.
Der Herrgott, der die Nidel stahl (Wanderung #7): Empörung im Gesicht des Bauern, der zu Jesus blickt, der dem Bauern die Nidel weggetrunken haben soll. Das Bild zeigt den Moment der Desillusionierung: Der Bauer kann nicht fassen, was Jesus eben getan hat.
Brauchtum
Der rollende Kuhbauch mit Augen in Madernal (Wanderung #16): Beim Brauch handelt es um geregeltes Werbeverhalten junger Männer, das durch die Knabenschaften kontrolliert wurde. Das Bild zeigt die Situation der jungen Männer, die ein hübsches Mädchen entdeckt haben, an das sie sich aber nicht spontan herantasten dürfen. Die jungen Männer werden von einem hässlichen Kuhbauch mit Augen – eine sonderbare Sagenfigur aus der Region – gestört und in Schach gehalten.
Die Windsbräute in Segnas (Wanderung #6): Im ausgehenden 19. Jahrhundert waren die Windsbräute in der Sagenwelt der Surselva weit verbreitet, weshalb deren Kleider von dieser Zeit beeinflusst sind. Wie in der Sage beschrieben, erscheinen die einen als Damen und die anderen ungepflegt. Eine Schar Windsbräute formiert sich zu einem Chor und besingt ein gestohlenes Kleinkind.